Lars Pegelow - Coach aus Leidenschaft

Die „Banalität des Bösen“ sorgte 1963 für großes Aufsehen. Es war das Buch der Philosophin und Politologin Hannah Arendt über den Prozess gegen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann in Jerusalem. Hannah Arendt sah in Eichmann kein Nazi-Monster, sondern vor allem einen biederen Erfüllungsgehilfen. Viele Menschen hatten ein anderes Urteil von Arendt, selbst Jüdin, erwartet. Eines, das auch moralisch dem tatsächlichen Urteil der israelischen Richter entsprach – der Todesstrafe. Aber so einfach urteilte Hannah Arendt nicht. Mit atemberaubender Konsequenz folgte sie in ihrer Meinungsbildung klaren Grundsätzen. Mit einer Haltung des Zuhörens, einer unbedingten Toleranz anderen Meinungen gegenüber, sowie mit der Fähigkeit, die eigenen Gedanken stets kritisch zu hinterfragen und, wenn es nötig ist, auch eine andere Richtung einzuschlagen.

Die Haltung des Zuhörens

Die Biografie der 1906 in Hannover geborenen Hannah Arendt ist beeindruckend. Am beeindruckendsten, finde ich, ist ihre Klarheit und Unbestechlichkeit. Sie hat sich nicht um Vorurteile und die öffentliche Meinung geschert. Wurde ihr ein Sachverhalt als klar und eindeutig geschildert, so wuchs gleichsam ihre Wachsamkeit. Sie wäre vermutlich ein hervorragender Coach geworden. Mit klarem Blick wechselte sie Perspektiven, beleuchtete neu und von so vielen Seiten wie möglich. Darin war sie eine Meisterin, was ihrer Stimme hierzulande großes Gewicht verlieh – auch nachdem sie vor den Nazis in die USA fliehen musste. Hannah Arendt: „Jede Wahrheit, ob sie nun den Menschen ein Heil oder ein Unheil bringen mag, ist unmenschlich im wörtlichsten Sinne, weil sie zur Folge haben könnte, dass alle Menschen sich plötzlich auf eine einzige Meinung einigten, so dass aus Vielen einer würde, womit die Welt, die sich immer nur zwischen den Menschen in ihrer Vielfalt bilden kann, von der Erde verschwände.“

Jemand wie Hannah Arendt fehlt heute immer noch in einer Gesellschaft, die zunehmend schnell urteilt – weg von der Sache, hin zu Persönlichem. Komplexe Zusammenhänge herunterzubrechen und immer wieder einer kritischen Prüfung zu unterziehen, ganz unabhängig beispielsweise von parteipolitischen Motiven, das tat Deutschland damals gut. Und das tut uns allen auch heute gut. Im großen Kontext und in kleinen, privaten Themen. Wie schnell wollen wir heute unser Gegenüber überzeugen von einer „richtigen“ Meinung. Vom „einzigen“ Weg, der jetzt möglich ist. Was man jetzt machen und bedenken „muss“. Ja, am Ende müssen wir wirklich dieses und jenes tun, weil es Zwänge gibt, die auch nach Arendtscher Prüfung unausweichlich sind. Aber bis es soweit ist, lohnt immer ein zweiter und dritter Blick. Mir gefällt an Hannah Arendt besonders die „Haltung des Zuhörens“, wie die Literaturwissenschaftlerin Barbara Hahn einmal beschrieb. Wie hilfreich wäre es doch, wenn jeder, der am liebsten sofort losplapperte, zuvor einmal mehr zugehört hätte…

Hannah Arendt hätte 1963 auch zu einer anderen Beurteilung über Adolf Eichmann kommen können. Eine Beurteilung, wie ihn viele ihrer Zeitgenossen vorgenommen haben, dass Eichmann nämlich mit billigem Schauspiel im Gericht in Jerusalem versucht hat, seine Gräueltaten feige zu verharmlosen. Am Ende musste sich Hannah Arendt aber entscheiden – und sie entschied sich auch im Fall des grausamen Adolf Eichmann, ihren Maßstäben treu zu bleiben. Eichmann, der Hanswurst, und nicht Eichmann, der Teufel. Gerade weil Hannah Arendt geurteilt hat, ohne vorzuverurteilen – gerade weil sie erst zugehört hat und erst danach gesprochen und geschrieben, ist ihr Werk so bedeutend. Im Großen und auch in Kleinen.

Empfohlene Beiträge

Noch kein Kommentar, Füge deine Stimme unten hinzu!


Kommentar hinzufügen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert